Chefdenker / Bambix / Betrunken im Klappstuhl
19.07.14 Rekorder, Dortmund
35 Grad im Schatten, da ist man doch froh, wenn man sich in einen kühlen Kellerraum zurückziehen kann. Der Keller gehörte zum Rekorder, gegenüber vom Subrosa und der einzige Nachteil war, dass ich nicht alleine mit den zwei Ventilatoren in dem Raum war. Es hatte sich auch noch das kölsch-holländische Doppelpack der guten Laune, Chefdenker und Bambix, angekündigt, die sich den Schlagzeuger teilen und daher an diesem Abend auch die Bühne.Wenn also schon Chefdenker im Hause waren, musste das Vorprogramm natürlich ebenfalls eine besondere intellektuelle Herausforderung darstellen. Und so hatte man die Stammtischphilosophen der Privatuni Castrop-Rauxel von Betrunken im Klappstuhl gebeten, eine kurze Vorlesung über den Zustand der Welt zu halten.
Betrunken im Klappstuhl |
Zu sechst aber ohne Klappstuhl standen sie dann um kurz nach neun auf der kleinen Bühne und reckten in bester Klassenkampf-Pose die Fäuste zu Europes The Final Countdoen in die Luft. Die sechs Seiten eines Würfels als Kontraposition zu Einsteins These, dass Gott nicht würfelt, bereit für den Kampf gegen den Niedergang der Gesellschaft, wie wir sie kennen, der letzte Countdown, das Armageddon, die Apokalypse. Auch im ersten Lied Lili zeigten die Stuhlis, wie sie liebevoll von niemandem genannt werden, dass sie mitten im Leben stehen, indem sie Ebene und Meta-Ebene kunstvoll vermischten und passend zur Textzeile "Trinkpause" auch gleich eine einlegten.
Danach folgte dann ihr politisches Manifest, das Pamphlet Südamerika, das mit seiner provokanten Aussage "Ich bin hier zum Komasaufen, ich will hier nicht diskutieren" messerscharf den Finger in die Wunde der post-industriellen Konsumgesellschaft legte und gerade durch seine zeitgeschichtliche Aktualität angesichts der Dichotomie zwischen dem sozialen Überlebenskampf in den brasilianischen Favelas (Brasilien liegt in Südamerika, klingelts?) und der Hyper-Kommerzialisierung der Fußball-Weltmeisterschaft wertvoller denn je ist. Beharrliches Wiederholen dieser beiden Stücke sollte hier den Lerneffekt bei den anwesenden Studierenden stärken. Auch die zwischenzeitlichen Ankündigungen, "wir spielen so lange, bis ihr alle gegangen seid", diente nur der Lernmotivation, denn die Schule verlässt man ja auch erst, wenn man den erfolgreichen Abschluss geschafft hat. Zur Auflockerung wurden zwischendurch noch kleine Divertissements geboten, jedes aber auch komprimierte Lektionen über den Zustand der Gesellschaft. Auch bei Wo ist das Kind mit meinem Café Latte wird der Wohlstandsgesellschaft textlich durch "ohne Moos nix los, ich bin arbeitslos" das jüngste Gericht vor Augen gerufen, der finale Countdown dabei allgegenwärtig in jedem Stück.
Gleichzeitig verdeutlichte die Art des Vortrags symbolisch die Entmenschlichung unserer Kultur, in der das Individuum zum austauschbaren Platzhalter mutiert ist. Gleich drei Bassisten wurden während der Darbietung verschlissen, immer wieder neu durch zufällig Anwesende ersetzt. Aufkommende Zivilcourage wurde symbolisch bestraft, indem der Schlagzeuger freiwillig während der Performance ausstieg, dadurch aber die Runde Schnaps für das Künstlerkollektiv verpasste. So funktioniert Kapitalismus, kleine Brotkrumen halten den Papagei im Käfig am Singen.
Das Publikum wurde dann irgendwann doch völlig verstört an die Theke entlassen, die Bühne wurde für die Chefdenker geräumt. Sie präsentierten als Gegenentwurf ein alternatives Kapitalismusmodell. Die Zukunft liegt in Europa und im Jobsharing, an diesem Abend in einer deutsch-niederländischen Koproduktion exemplifiziert. Je abwechselnd spielten Chefdenker und Bambix drei Stücke, bevor die andere Band übernahm, ein Musterbeispiel an Synergieeffekten, denn lästige Umbaupausen entfielen und die Auftritte beider Bands wurden so in zwei Stünden an einem Stück abgewickelt, schließlich ist Zeit Geld.
Bambix |
Dennoch wurde dabei eine teutonische Hegemonie als Land der Dichter und Denker deutlich, denn nicht nur dass Chefdenker das Gemeinschaftsprojekt begannen und kurz nach Mitternacht beendeten, auch sang Wick Bambix zwei Lieder auf deutsch und zeigte auch so, wer der amtierende Weltmeister ist. Nicht verschwiegen werden soll hier aber die Schattenseite dieser Utopie, denn Schlagzeuger und Bassist mussten bei beiden Bands ran, standen also die gesamten 120 Minuten unablässig auf der Bühne, ein Symbol, dass Kaptalismus auch in einer scheinbar funktionierenden Form der Ausbeutung von Randgruppen bedarf.
Vordenker Claus Lüer scheint auch eine geradezu pathologische Vorliebe für den Buchstaben C zu haben, plünderte er doch nicht nur das Repertoire seines Think Tanks Chefdenker, sondern auch das eigene Archiv in Form von Beiträgen aus den Werken von Casanovas Schwule Seite (Höllenfeuerlicht) und Cnochenfabrik (Fuck Off, Filmriss), jedes für sich bereits ein eindringliches Statement zur Lage im Keller des Rekorder.
Hier herrschte nämlich inzwischen von den Temperaturen her eine Fegefeuer-Atmosphäre, die nur durch unkontrollierte Elektrolytzufuhr auf Hopfenbasis zu ertragen war. So war es nur stringent, den Filmriss ans Ende der Veranstaltung zu setzen. Um jedoch den kritischen Aspekt der Vorlesung auch hier zu verdeutlichen, dass in dieser Gesellschaft der Weg zum Erfolg und persönlichen Glück nur durch harte Entbehrungen zu bewältigen ist, ging der finalen Erlösung ein fünfminütiges Blues-Solo voraus, wie es Eric Clapton (man beachte das C!) nicht besser hinbekommen hätte. Und da Clapton bekanntlich im Volkssmund Gott ist, ist das Leiden von Gott gewollt und er somit der Teufel, eine Ambiguität, die radikaler ist als Nietzsches profanes "Gott ist tot".
Chefdenker |
Marcel Reich-Ranickis "Am Ende sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen" schwebte somit als Fazit über diesen als harmloser Punkrock getarnten Diskurs über den Sinn des Lebens in der heutigen Zeit, einer Rückbesinnung auf Bier und Schweiß als Nährboden für die ganz großen Gedanken, die diese Welt voranbringen. Prost!